Kinderbuch
224 S. | s/w-Zeichnungen von Daniela Rütimann
14,8 x 21 cm | Hardcover
kwasi verlag 2025 || 25 Fr. | 23 €
ab 9 Jahren
ISBN 978-3-906183-37-4
Autorin und Illustratorin
Linda Meyer ist in einem kleinen Dorf am Tor zum Emmental aufgewachsen. Sie unterrichtete mehrere Jahre als Primarlehrerin und ist heute als schulische Heilpädagogin in ihrer eigenen Praxis in Bern tätig. Sie ist stets in Bewegung, liebt die Natur, Musik und das Zusammensein mit Freunden und Familie. Gemeinsam mit ihrem Mann lebt sie in Biel/Bienne (Schweiz).
Daniela Rütimann ist seit 2001 freischaffend in eigenem Atelier und bewegt sich zwischen ihrer künstlerischen und der angewandten Arbeit als Zeichnerin/Illustratorin. Sie hat Textildesign in Basel und Illustration in Luzern studiert und Studienaufenthalte an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam und Central St. Martins College of Art and Design in London absolviert. Daniela Rütimann wohnt und arbeitet in Zürich.
Rezensionen
Neurodiversität
Sanna ist ein Schattenkind – ein Kind, das hinter einem kranken Geschwister zurückstehen muss und früh lernt, Verantwortung zu übernehmen. Aber Sanna ist auch ein Kind aus dem autistischen Spektrum – unbemerkt, wie bei so vielen Mädchen und Frauen. Am glücklichsten ist sie, wenn sie ihre reiche Innenwelt nach aussen tragen kann, sei es in ausgedehnten Spielszenarien oder in Geschichten, die sie ihrem kleinen Bruder erzählt, um ihm die Abneigung vor dem Spital oder die Angst vor dem Tod zu nehmen. Sannas überschäumende Kreativität zeichnet sie aus, aber auch ihr Ehrgeiz, ihre Loyalität, ihre Sturheit und ihr ausgepräger Sinn für Gerechtigkeit gehören zu ihrem neurodiversen Sein dazu. Sanna denkt viel über das Leben nach und darüber, wie eine Familie sein sollte – und wie nicht. Diese Fähigkeit zur Reflexion ist typisch für autistische Kinder und lässt sie oft altklug wirken.
Wie es im Leben auch geschieht, hat Sanna ihre autistische Veranlagung geerbt, in ihrem Fall vom Vater. Er neigt, wie viele Autist*innen, zu Übergeneralisierung, zu übermässiger Kontrolle der Aussenwelt (um Sicherheit im Innen zu garantieren) und zu einem stark ausgeprägten Verantwortungsgefühl. Diese Eigenschaften verstärken sich, je grösser der Stress wird, dem der Vater ausgesetzt wird. Auch das Loslassen fällt ihm schwer und er benötigt viel Unterstützung von seinem Umfeld, um sich von seinen klaren Vorstellungen der Welt, wie sie in seinen Augen sein sollte, allmählich zu lösen …
Rosa Elefanten gibt es nicht
Beschreibung
Die zehnjährige Sanna geht gern zur Schule, liebt Hunde, spielt Fussball und wünscht sich, sie würde in einer ganz normalen Familie leben. Ihr kleiner Bruder Luk ist nämlich ein sogenanntes Herzkind: Sein Herz ist zu schwach und schränkt ihn in seiner Leistungsfähigkeit ein. Auch ist er anfälliger auf Erkrankungen und muss oft ins Spital. Darum findet Papa, Urlaub sei nicht möglich.
Aber Sanna wehrt sich. Sie kämpft dafür, nicht nur als grosse Schwester, sondern auch mit ihren Bedürfnissen und Eigenheiten gesehen zu werden. Und sie setzt sich für Luk ein: Sie ermöglicht ihm eine Italienreise vom Wohnzimmer aus, besorgt ihm Bauernhof-Cola und fängt seine Ängste vor Gewitter und vor dem Tod auf.
Die Geschichte erzählt ganz aus der Geschwistersicht, wie das Leben mit einem beeinträchtigen Kind die Familie herausfordert und wie sie zurechtkommen, als das Unausprechliche eintritt.
Leseprobe
Zu spät merkte Sanna, dass der Gegenangriff schon lief. Die Sechs spielte einen Doppelpass mit der Neun, so dass sie Theo auf dem falschen Fuß erwischte. Er konnte den Schuss nicht abwehren, der Ball zappelte im Netz. Sanna stöhnte. Und es kam noch schlimmer: Das gegnerische Team drehte so richtig auf und erzielte noch ein Tor und noch eins. Bei Halbzeit stand es fünf zu null.
Die Trainerin versuchte in der Pause, ihr Team aufzurütteln, das mit gesenkten Köpfen um sie herumstand. Danach konnten sie immerhin weitere Tore gegen sich verhindern. Und dann – kurz vor Spielende – löste Theo einen Konter aus. Ein Traumpass von der Außenverteidigerin auf Sanna. Perfekte Ballannahme mit dem rechten Fuß. Sie sprintete los, sah die Lücke vorne rechts. Sanna holte zum Schuss aus – da stellte ihr die Nummer Sechs das Bein, und Sanna landete bäuchlings auf dem Rasen.
»Geht’s noch? Das ist Foul!«, schallte eine helle Stimme von der Tribüne herüber.
Sanna schaute auf und sah, wie Mama ihrem kleinen Bruder die Hand auf den Mund legte. Aber nun war es sowieso zu spät. Der Schiedsrichter pfiff das Spiel ab, und Sanna schlich mit hängendem Kopf zur Auswechselbank. Die Trainerin wusste nicht viel zu sagen. »Die waren einfach stärker, da war nichts zu machen. Aber die zweite Halbzeit war viel besser. Darauf könnt ihr stolz sein«
Sanna trottete hinüber zu ihrer Familie. Luk rief ihr entgegen: »Du bist die beste Spielerin gewesen! Wenn die nicht so unfair gespielt hätten, hättest du die Tore geschossen!«
Sanna wusste, dass er glaubte, was er sagte. Er verstand absolut nichts von Fußball, hatte selbst noch nie gespielt. Aber sie konnte heute nicht über seine Ahnungslosigkeit lachen. Es hätte ihr großer Tag sein sollen. Sogar Opa und Oma waren gekommen. Immerhin das hatte sein Gutes: Opa kaufte ihr zum Trost eine Limonade und ein Stück Kuchen. So viel Zucker auf einmal! Zum Glück war Papa nicht dabei, der hätte das nicht zugelassen. Jetzt gab es nur eins: schnell mit dem Kuchen verschwinden, bevor jemand verlangen konnte, dass sie ihn mit Luk teilen sollte. »Ich bin dann mal mit Theo drüben beim Spielplatz«, rief sie Mama zu.
Luk ließ sich nicht so einfach abschütteln. »Mama, darf ich mit?«, krähte er.
Mama war ins Gespräch mit den anderen Fußballmüttern vertieft. Sie schaute nur kurz auf. »Passt du auf ihn auf, Sanna? Ja?«
Sanna zuckte mit den Schultern. Immerhin konnte sie ihre Beute behalten. Sollte er eben mitkommen. Aber auf ihn aufpassen? Keine Lust. Sie lief los. Wenn der Kleine mitkommen wollte, musste er sich eben beeilen.
Theo hatte schon mit Yoko eine Runde gedreht und wartete beim Spielplatz auf sie.
»Yoko! Na komm! Komm her zu mir!«, rief Sanna und klopfte sich mit der freien Hand auf den Oberschenkel.
Theo ließ den Collie von der Leine, und Yoko raste mit hängender Zunge auf sie zu. Sie kniete sich hin und empfing den Hund mit einer Umarmung. Als sich ihre kuchenfreie Hand in das weiche Fell grub, schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht und das verlorene Fußballspiel aus ihrem Kopf.
Aber da riss sich Yoko los und rannte an ihr vorbei. Sanna drehte sich nach ihm um und sah, wie Yoko auf Luk zuraste. Mit einem Sprung warf er den Kleinen zu Boden und leckte mit der Zunge über sein Gesicht. Sanna fluchte leise und stopfte sich den restlichen Kuchen in den Mund. »Yoko«, nuschelte sie und schluckte. »Komm her, du Wilder, du machst meinem Bruder Angst!« Sie lief hin und zog Yoko am Halsband von Luk weg.
Der lag auf dem Boden und machte das komischste Gesicht, das Sanna je an ihm gesehen hatte: eine Mischung aus »Ich habe gerade den Weihnachtsmann gesehen« und »Da hat mich ein Alien erwischt.« Seine Wangen schimmerten rosa, weil er ihr hinterhergerannt war, und sein Atem ging stoßweise.
»Komm schon, Kleiner«, sagte Sanna. »Das ist ein Hund, der tut dir nichts. Er ist nur ein bisschen wild. Stimmt’s, Yoko?« Sie strubbelte dem Hund das lange Fell und ließ ihn wieder los, so dass er kläffend um sie herumsprang.
Luk rappelte sich auf und verfolgte Yoko mit seinem Blick.
»Fang, Yoko!«, rief da Theo, und ein Tennisball flog über ihre Köpfe. Im selben Moment raste Yoko ihm bellend hinterher. Er stürzte sich so aufgeregt auf den Ball, dass er sich im Gras überschlug. Dann packte er ihn mit der Schnauze und lief pfeilschnell zu Theo zurück, dem er den Ball vor die Füße legte. Er wedelte wie verrückt mit dem Schwanz und schaute abwechselnd vom Ball zu Theo und wieder zurück. Als Theo den Ball aufnahm, sprang der Hund ein paarmal aufgeregt in die Höhe. Theo warf den Ball zu Sanna, und Yoko raste bellend auf sie zu. Schnell warf Sanna den Ball, so weit sie konnte. Yoko schlug einen Haken und rannte hinterher. Er fing den Ball direkt aus der Luft, und diesmal brachte er den Ball zu ihr zurück.
Theo zwinkerte Luk zu. »Willst du auch mal?«
Sanna verdrehte die Augen. Reichte es nicht, dass der Kleine im Weg herumstand? Sie warf den Ball ein zweites Mal und Yoko hechtete hinterher.
»Es ist nicht schwer! Yoko ist total lieb«, redete Theo auf Luk ein. »Komm zu mir, Yoko!«
»Ich weiß nicht, ob Luk das kann«, wandte Sanna ein. »Er hat noch nie mit einem Hund gespielt.«
Aber Theo achtete nicht auf sie. »Natürlich kann er das! Oder hast du Angst vor Hunden?«
Luk schüttelte den Kopf, doch Sanna sah, wie er zitterte. Luk hatte überhaupt noch nie einen Hund gestreichelt. Er streckte zögerlich die Hand aus, und Theo drückte den feuchten Ball in seine noch feuchteren Hände.
Luk warf den Ball so schnell weg, wie er konnte. So dass er kaum einen Meter entfernt landete. Yoko machte nur einen Satz und schnappte ihn sich.
»Jetzt musst du ihn loben, Luk.« Theo streichelte Yokos Fell.
Luk kniete sich dazu. Ganz vorsichtig berührte er das goldbraune Fell, jetzt wieder mit seinem Weihnachtsmann-Gesicht. Sanna seufzte und kraulte Yoko hinter den Ohren. »Das mag er am liebsten.«
Luk machte es ihr nach und traute sich schließlich, seine Hände tiefer ins Fell zu graben. Yoko streckte seine lange Zunge aus dem Maul, und sein warmer Atem strömte in Luks Gesicht, der jetzt keine Angst mehr hatte. Und als Yoko mit seiner rosa Zunge über sein Gesicht schleckte, musste er lachen. Sanna und Theo lachten auch.
»Es ist nicht schlimm, ein Spiel zu verlieren«, sagte Papa. »Hauptsache, ihr hattet Spaß. Ich hab für unsere Starspielerin und die Fans ein ordentliches Abendessen im Ofen. Aber zuerst gehst du ab unter die Dusche, Sanna!«
Duschen! Dazu hatte Sanna nun überhaupt keine Lust. Schon gar nicht, während Papa kochte und es in der Küche was zu stibitzen gab.
»Und du, Luk, hattest du auch Spaß?« Papa gab Luk einen Kuss auf die Wange. »Puh, du riechst aber seltsam. Was hast du gegessen?«
»Kuchen.«
Sanna horchte auf. Hatte Opa ihm also auch ein Stück gekauft?
Papa rümpfte die Nase. »Das war aber ein seltsamer Kuchen. Du riechst eher nach nassen Socken.«
Nun sprudelte es aus Luk heraus: »Ich habe mit Yoko gespielt! Das war toll! Wir haben den Ball weggeworfen, und er hat ihn immer wieder zurückgebracht.«
Papa griff nach Luks Händen und roch daran. »Luk! Hast du den Hund etwa angefasst?«
»Ja«, sagte Luk strahlend. »Sein Fell ist soooo weich und die Zunge fast so rau wie Opas Holzfeile. Er ist ein toller Hund!«
Sanna zuckte zusammen, als sie sah, wie Papa augenblicklich weiß im Gesicht wurde und seine Hände zitterten. »Du hast einen Hund angefasst?!«, rief er. »Wie oft hab ich dir gesagt, dass Hunde voller Bakterien sind?«
Diesen Ton kannte sie. Unauffällig wandte sie sich ab und schlich zu ihrem Zimmer.
Papa schimpfte weiter. »Wie konntet ihr Luk mit dem Hund spielen lassen?«, fuhr er Mama an, die gerade dazu kam.
»Ich wusste nicht, dass die Kinder mit Yoko spielen. Aber deswegen musst du nicht gleich so laut werden. Außerdem hat Doktor Novak gesagt, dass Tiere kein Problem sind.«
Da wurde Papa richtig böse. »Aha! Sitzt sie nachher nächtelang an seinem Bett, wenn er krank ist? Ich weiß genau, was für Luk gut ist und was ihm schadet. Ich bin sein Vater. Ich kann es nicht glauben! Muss ich euch wirklich zum hundertsten Mal erklären, was dieses Tier anrichten kann?« Jetzt drehte er sich zu Sanna um, bevor die ihr Zimmer erreicht hatte. »Willst du deinen Bruder umbringen?! Das war das letzte Mal, dass du mit diesem Vieh gespielt hast! Du hältst dich von Hunden fern, da du offensichtlich nicht in der Lage bist, Luk da rauszuhalten!«
»Mir doch egal!«, schrie Sanna. »Und außerdem war es nicht meine Idee, dass Luk mit mir zum Spielplatz kommt. Kümmer dich doch selbst um ihn, wenn es dir nicht passt, wie wir das machen!« Ohne Papas Antwort abzuwarten, schlug sie die Tür hinter sich zu. Dann warf sie sich heulend aufs Bett. Nie mehr mit Yoko spielen?! Hatte Papa eine Ahnung davon, was ihr der Hund bedeutete? Wenn sie schon selbst keinen haben durfte? Sanna schlug mit der Faust auf die Matratze. Ein ums andere Mal. Warum konnten sie keine normale Familie sein? Warum musste Luk immer alles verderben? Sie hatte so die Schnauze voll.
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